L. Moliterni Eberle: «Lassen Sie mein Leben nicht verloren gehen!»

Cover
Titel
Lassen Sie mein Leben nicht verloren gehen!. Begnadigungsgesuche an General Wille im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Eberle Moliterni, Lea:
Erschienen
Zürich 2019: NZZ Libro
Anzahl Seiten
488 S.
von
Mario Podzorski

Lea Moliterni Eberle untersucht in der vorliegenden Arbeit, mit der sie 2017 an der Universität Zürich promovierte, Begnadigungsfälle in der Schweizer Militärjustiz während des Ersten Weltkriegs. Gnadenherr war damals General Wille. Von 3391 Fällen hat die Autorin anhand inhaltlicher Kriterien 100 ausgewählt und ausgewertet, 38 stellt sie eingehender dar. Anhand von 120 Briefen an Wille fragt Moliterni Eberle erstens nach Motiven, mit denen die Gesuchstellenden um Gnade baten, und rekonstruiert Strategien, mit denen diese den Gnadenherrn zu überzeugen versuchten. Zweitens untersucht sie die Gnadenpraxis, das heisst die Gründe für einen Entscheid und das Verfahren dahinter. Dazu verwendet sie Untersuchungsakten der Militärjustiz, insbesondere Empfehlungen von Auditoren, die die Gesuche prüften und eine Empfehlung zugunsten Willes abgaben. Moliterni Eberle vertritt die These, dass Emotionen, insbesondere Mitleid, beim Ersuchen um und Gewähren von Gnade zentral waren. Willes Entscheide seien zudem von seinem Eigensinn geprägt gewesen. Die Arbeit basiert auf textlinguistischen und emotionsgeschichtlichen Ansätzen: Ein Text habe ein sogenanntes «Emotionspotenzial». LeserInnen könnten ihn nicht nur kognitiv verstehen, sondern auch die Gefühle darin nachempfinden (sogenannte «Emotionalisierung»). Diese könnten ihr Handeln leiten. Um die Bedeutung von Emotionen aufzuzeigen, will die Autorin die Tiefenstruktur der Gesuche auf lexikalischer und syntaktischer Ebene analysieren. Hermeneutisch-interpretierend schliesst sie auf das kognitive und emotionale Wissen, auf das damalige Leser bei der Textarbeit zurückgriffen. Darauf gestützt will sie das Emotionspotenzial der Gesuche einschätzen.

Anhand des Modellfalls Rudolf Urech zeigt die Autorin im zweiten Kapitel exemplarisch die Strategien auf, mit denen Urech und seine Angehörigen um Gnade baten, und zeichnet den Weg von der Einreichung der teils emotionalen Gesuche bis zum negativen Gnadenentscheid nach. Im dritten Kapitel thematisiert sie die Themen Militär, Justiz und Gnade, die den Kontext der Begnadigungsfälle bildeten. Die Schweizer Militärjustiz, der während des Ersten Weltkriegs auch die Zivilbevölkerung unterstellt war, verfügte mit dem Militärstrafgesetz von 1851 über ein veraltetes, unvollständiges, uneinheitliches und drakonisch strafendes Gesetz. Die Begnadigung war die einzige Möglichkeit, Fehlund überharte Urteile zu korrigieren. Der Gnadenherr genoss weitgehende Entscheidungsfreiheit, sah sich jedoch dem Dilemma ausgesetzt, mit einer Begnadigung rechtsstaatliche Interessen, beispielsweise das Verbot von Willkür, zu verletzen. Das vierte Kapitel ist mit rund 230 Seiten der eigentliche Hauptteil der Arbeit. In neun Unterkapiteln vertieft die Autorin die Motive und Strategien der Gesuchstellenden und schliesst auf deren «Befindlichkeiten, Gefühle und Alltagerfahrungen» (S. 366). Anhand der Empfehlungen und Entscheide thematisiert sie, wer weshalb und unter welchen Umständen begnadigt wurde. Emotionen seien, resümiert Moliterni Eberle, bei Gnadenbitten «sehr erfolgreich» (S. 381). Dass Wille wiederholt Abklärungen anordnete und von den Empfehlungen der Auditoren abwich, wertet sie als Beleg für dessen Eigensinn.

Der Aufbau der Arbeit überzeugt. Der Modellfall erleichtert den Einstieg ins Thema. Mit dem dritten Kapitel vermag die Autorin bedeutende Problemfelder der Militärjustiz und der Gnade aufzuzeigen, auf die sie später teilweise zurückkommt. Die Untersuchung der Motive und Strategien der Gesuchstellenden ist umfangreich, doch die Abgrenzung zwischen den einzelnen Teilkapiteln manchmal schwammig. Ist der Gnadenpraxis beim Modellfall noch ein eigenes Unterkapitel gewidmet, wird sie nun anhand der einzelnen Begnadigungsfälle dargestellt. Damit rückt sie im Vergleich zu den Gnadenmotiven in den Hintergrund. Die Autorin analysiert die Begnadigungsgesuche und die Empfehlungsschreiben teils detailliert, gerade im zweiten Kapitel. Erhellend sind hier die Rückschlüsse auf damaliges emotionales und kognitives Wissen. Im vierten Kapitel wird die Untersuchung allerdings deskriptiver und bisweilen repetitiv.

Ob und welche Bedeutung den Emotionen beim Bitten um und Gewähren von Gnade zukam, ist nicht immer nachvollziehbar. Das hat mehrere Gründe: Es bleibt bis am Ende offen, was genau die Autorin unter Emotionen versteht. Vor allem die Abgrenzung von kognitivem und emotionalem Wissen ist unklar. Auch die angekündigte vertiefte Untersuchung der Sprache, des Emotionspotenzials von Texten und der Emotionalisierung der Leser finden kaum statt. Zudem ist anhand der meist nur kurzen Ausführungen Willes nur selten aufzuzeigen, welche Gefühle er beim Lesen der Gesuche (nach)empfand. Fälle emotionaler Gesuche, die er ablehnte, lassen zweifeln, ob und inwiefern Willes Handeln von Emotionen geprägt war. Schliesslich fehlt eine klare Unterscheidung von Motiven und Strategien. Es bleibt deshalb stellenweise unklar, ob die Gesuchstellenden die dargestellten Emotionen tatsächlich empfanden oder bloss vortäuschten. Dass Wille über einen spezifischen Eigensinn verfügte, belegt die Autorin verschiedentlich. Stellenweise präzise schliesst sie auf die Gründe für sein Handeln. Interessant wäre gewesen, diese Ergebnisse vor dem Hintergrund einschlägiger Forschung zu Wille zu diskutieren.

Moliterni Eberles Studie bietet einen wertvollen Beitrag zur noch lückenhaften Forschung zur Schweiz im Ersten Weltkrieg. Vor allem die kulturgeschichtliche Perspektive auf Wehrmänner und ihre Angehörigen sowie deren Erfahrungen ist bereichernd. Zudem vermag die Autorin die Problemfelder der damaligen Militärjustiz anschaulich aufzeigen. Dank seiner verständlichen Sprache und der guten Leserführung ist das Werk auch einem breiteren Publikum zugänglich

Zitierweise:
Podzorski, Mario: Rezension zu: Eberle, Lea Moliterni: «Lassen Sie mein Leben nicht verloren gehen!» Begnadigungsgesuche an General Wille im Ersten Weltkrieg, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 382-384. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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